"Im Kreml sitzen fantastische Idioten" (2024)

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"Im Kreml sitzen fantastische Idioten" (1)

Im Londoner Exil ist das Telefon für Michail Chodorkowski die wichtigste Verbindung zu der Welt, die er nicht betreten kann: Russland. Russlands ehemals reichster Mann - "Forbes" schätzt sein Vermögen heute noch auf 500 Millionen Dollar - tippt Mails, liest besorgt Nachrichten: Aktivisten der Bewegung "Open Russia" sind in Moskau festgenommen worden, steht da.

Wladimir Putin hat den Ex-Oligarchen 2013 zwar begnadigt und aus der Haft entlassen. Er kann sich also wieder frei bewegen - nur der Weg zurück in seine Heimat ist ihm versperrt. Beim Versuch der Einreise würde ihm die Verhaftung drohen. Die Behörden haben Material gesammelt für ein weiteres Verfahren gegen ihn, für einen dritten Prozess.

Präsent ist er dennoch in Moskau. "Open Russia" knüpft Kontakte zu anderen Oppositionskreisen, bei Russlands Parlamentswahlen 2016 hat Chodorkowski Kandidaten aus den Reihen der Kreml-Gegner unterstützt. Die Intelligenzija achtet ihn, vielleicht sogar noch mehr als Alexej Nawalny, den jungen Oppositionspolitiker, hinter dem sich die Jüngeren scharen.

Im Frühjahr hat sich Chodorkowski an die Seite Nawalnys gestellt, auch wenn er manches skeptisch sieht: Er hält Nawalnys unversöhnlichen Ton gegenüber Beamten und Kreml-Elite für falsch. Man müsse Teilen des Machtapparats Brücken offenhalten, die Opposition brauche Verbündete, wenn sie Erfolg haben und - nach Putin - die Gewaltenteilung in Russland wiederherstellen wolle.

SPIEGEL ONLINE: Die USA haben neuen Sanktionen gegen Moskau wegen der mutmaßlichen russischen Einflussversuche auf die US-Wahl verhängt. Die Bundesregierung spricht von einem "Handelskrieg", weil auch die Ostseepipeline Nord Stream 2 betroffen sein könnte. Wie sehen Sie die Sanktionen?

"Im Kreml sitzen fantastische Idioten" (2)

Chodorkowski: Aus US-Sicht sind sie ein verständlicher und politisch unausweichlicher Schritt. Natürlich hat das US-Gesetz auch eine geschäftliche Dimension. Die Amerikaner sind fest überzeugt, mit ihrem Schiefergas über ein ausgesprochen aussichtsreiches Produkt zu verfügen - und sie wollen dafür Märkte in Europa vorbereiten.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehr treffen die Sanktionen Russland?

Chodorkowski: Mit dem Verbot von Technologieexporten für russische Bohrprojekte versperren sie Russland die rentable Erschließung des arktischen Kontinentalschelfs auf mindestens ein Jahrzehnt. Wir können nicht über Nacht lernen, selbst schwere Bohrplattformen zu bauen.

SPIEGEL ONLINE: Hat sich die russische Führung verkalkuliert?

Chodorkowski: Sie hat den Amerikanern den Anlass für diesen Schritt gegeben. Wie dumm kann man sein, sich in die amerikanischen Wahlen einzumischen? Im 21. Jahrhundert könnten technologische Sanktionen unsere Nation zu einem ganzen Jahrzehnt Stagnation verdammen. Fantastische Idioten!

"Im Kreml sitzen fantastische Idioten" (3)

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Chodorkowskis Leben: Aufstieg und Fall eines Oligarchen

Foto: Farbfilm Verleih

SPIEGEL ONLINE: Wladimir Putins Popularität hat bislang nicht unter den bereits 2014 wegen der Ukrainekrise verhängten Sanktionen gelitten. Ist das bei den US-Sanktionen anders?

Chodorkowski: Für die russische Gesellschaft sind die Strafen ein weiterer Anlass, um sich um den Anführer zu scharen, gegen den "ewigen Feind, den amerikanischen Imperialismus".

SPIEGEL ONLINE: Bald sind Bundestagswahlen: Muss Deutschland mit Hacker- oder Fake-News-Attacken aus Russland rechnen?

Chodorkowski: Die scharfe Reaktion der Amerikaner dürfte die Bereitschaft in Putins Umfeld zu solchen Manövern senken. Auf der anderen Seite sind bei solchen Operationen viele Leute involviert. Sie haben sich vorbereitet, und sie haben damit gerechnet, Geld mit diesen Aufträgen zu verdienen. Die Wahrscheinlichkeit für solche Angriffe bleibt hoch.

SPIEGEL ONLINE: Viele Russen sehen Sie kritisch: Sie haben in den Neunzigerjahren von Privatisierungen profitiert, Milliarden verdient und hatten politischen Einfluss. Hätten Sie nicht mehr tun müssen, um die Russen mit Demokratie und Marktwirtschaft zu versöhnen?

Chodorkowski: Als in unserem Land - der Sowjetunion - Reformen begannen, war ich 24 Jahre alt. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich dafür verantwortlich sein könnte, Leuten etwas beizubringen, die deutlich älter waren als ich und viel erfahrener. Ich tat, was alle jungen Leute in diesem Alter tun: Ich habe versucht, einen Weg in die Zukunft zu bahnen: für mich, meine Freunde, die alle Anfang 20 waren. Es gelang uns unerwartet leicht.

Die Chronik des Falls Chodorkowski im Video

SPIEGEL ONLINE: Vielen Russen gelten Sie und andere Unternehmer heute als Krisengewinner.

Chodorkowski: Mir war damals nicht klar, wie viel damit zusammenhing, dass wir uns besser anpassen konnten als die anderen. Die älteren Generationen in Russland unterschieden sich damals stark von Altersgenossen in anderen Ostblockstaaten wie der DDR: Dort erinnerten sich Menschen immerhin noch daran, was der "Markt" gewesen war. In Russland hingegen hatten nach 70 Jahren Kommunismus zwei, drei Generationen keinen blassen Schimmer, was vor sich ging. Wir Jungen wiederum verstanden nicht, dass wir ihr Unwissen ausnutzten.

SPIEGEL ONLINE: Wann ist Ihnen das klar geworden?

Chodorkowski: Als 1998 eine schwere Wirtschaftskrise Russland erfasste. Der Rubel verlor gegenüber dem Dollar drei Viertel seines Werts, der Ölpreis stürzte ab. Plötzlich waren wir alle in der Situation, nichts mehr von dem zu verstehen, was um uns herum geschah. Damals habe ich den Entschluss gefasst, meine Stiftung "Offenes Russland" zu gründen, die seitdem gesellschaftliche Arbeit leistet.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren zu Sowjetzeiten Mitglied des Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Wie wird man vom linken Nachwuchskader zur Kapitalisten-Vorhut?

Chodorkowski: Der Komsomol war definitiv keine ideologisierte Organisation. Er war in den Achtzigerjahren eher wie die Scouts, die US-Pfadfinderbewegung. Er gab jungen Menschen eine Möglichkeit, sich selbst zu beweisen. Partei, Fabriken und Behörden nutzten den Komsomol als Reservoir, um Leute mit Organisationstalent zu finden. Überhaupt war die Sowjetunion in den Achtzigerjahren deutlich weniger ideologisiert als beispielsweise Ostdeutschland. Kommunistische Glaubenssätze zu wiederholen, das waren damals eher Rituale, von denen jeder wusste, dass er sie ausführen musste. Tatsächlich riefen sie im Alltag oft Spott hervor.

SPIEGEL ONLINE: Nach dem Zerfall der Sowjetunion wählten Präsident Boris Jelzin und seine Berater den Weg einer radikalen Privatisierung: Riesige Staatsbetriebe wurden schnell und billig verkauft. Sie kauften damals den Ölkonzern Jukos für gerade einmal 300 Millionen Dollar.

Chodorkowski: In der Marktwirtschaft bestimmt der Markt, was angemessen ist und was nicht. Ich habe damals mit Jegor Gaidar und Anatolij Tschubais gesprochen, die für die Privatisierung zuständig waren. Sie sagten, es gebe nur ein kleines Zeitfenster, um die Privatisierungen politisch durchzusetzen. Hinzu kam, dass es politisch unmöglich gewesen wäre, bedeutende Staatskonzerne an ausländische Investoren zu verkaufen.

SPIEGEL ONLINE: Also wurde alles richtig gemacht?

DER SPIEGEL

Chodorkowski: Ich habe damals vor zwei Kardinalfehlern gewarnt. Zum einen wurden viele Industriekonglomerate aufgespalten und einzeln verkauft. Einzeln waren viele kaum überlebensfähig. Das hat der russischen Wirtschaft gigantische Verluste beschert. Der zweite Fehler war, den Bürgern Anteilscheine an Betrieben in die Hände zu geben - zu einem Zeitpunkt, als die allerwenigsten den Wert dieser Papiere verstanden. Wertpapiere sind eine diffizile Angelegenheit. Selbst im heutigen Deutschland scheuen ja viele Menschen Investitionen in Aktien. Im Russland der Neunzigerjahre kam hinzu, dass es keine Institutionen gab, die den Menschen Handel mit diesen Wertpapieren erlaubt hätten.

SPIEGEL ONLINE: Was wäre eine Alternative gewesen?

Chodorkowski: Damals war zwischenzeitlich die Rede davon, einen Großteil dieser Aktien in Fonds zu bündeln. Diese Lösung wurde aber aus mir unbekannten Gründen nie umgesetzt. All diese Aktien landeten umgehend auf dem Markt und wurden von einigen wenigen aufgekauft. Das war einer der Fehler der Regierung, die ich ausgenutzt habe.

SPIEGEL ONLINE: Bereuen Sie das heute?

Chodorkowski: Ja und nein. Wir haben den Glauben der Menschen in die Gerechtigkeit des Marktes zerstört. Allerdings funktionierten auch die Produktionsketten nicht mehr. Die Ölförderung brach dramatisch ein. 1995 stand zur Debatte, dass Russland Öl für den eigenen Verbrauch importieren müsste. Einer der Gründe für die Probleme war, dass die alten sowjetischen Betriebsdirektoren eher Fertigungsleiter waren, aber wenig unternehmerisches Talent hatten. Die wichtigen Entscheidungen waren zu Sowjetzeiten ja an viel höheren Stellen getroffen worden. Auf dem Markt waren diese Direktoren aufgeschmissen. Wie konnte man sie durch Unternehmer ersetzen? Außer der Privatisierung fand die Regierung keine Lösung.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Konzern Jukos wurde nach Ihrer Verhaftung 2003 verstaatlicht, heute dominieren Staatskonzerne 60 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung. Experten wie Putins Ex-Finanzminister Alexej Kudrin fordern deshalb eine zweite Privatisierungswelle. Ist das nicht angesichts des Grolls der Bevölkerung ein undurchführbares Vorhaben?

Chodorkowski: Wenn ich heute den Verkauf von Staatskonzernen zu organisieren hätte, würde ich die Anteile an Pensionsfonds übergeben, die sie wiederum den individuellen Rentenkonten der Bürger gutschreiben. Ich habe bei Jukos einst dieses Experiment gemacht und zehn Prozent der Aktien in einen eigenen Pensionsfonds der Mitarbeiter übertragen. Ich bin überzeugt: Wäre so ein System über zehn Jahre landesweit in Funktion, würde sich das Verhältnis der Bevölkerung zu Privatbesitz deutlich verändern.

SPIEGEL ONLINE: Wie würden Sie Putins Wirtschaftspolitik beschreiben?

Chodorkowski: Putin ist eher liberal in seiner Haushaltspolitik - und zugleich vollkommen antiliberal, was die Ausgestaltung der Struktur der russischen Wirtschaft angeht.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Chodorkowski: Eine niedrige Inflation und ein möglichst geringes Haushaltsdefizit, das sind zwei von Putins Prinzipien, die auch vielen liberalen Ökonomen im Westen gefallen. Zugleich wächst aber auch der Einfluss von Staatskonzernen. Putin findet das gut, weil es in seinen Augen die Steuerbarkeit der Wirtschaft erhöht, den Durchgriff des Kremls. Was er nicht versteht: So bleiben auch Effizienz und Innovationen auf der Strecke.

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Wladimir Putin: Eine Bilanz in neun Grafiken

Foto: SPIEGEL ONLINE

SPIEGEL ONLINE: Warum handelt Putin so?

Chodorkowski: In Putins Vorstellung ist Freiheit Chaos, dreckige Straßen und verfallende Häuser. In seiner Vorstellung kann etwas nur gelingen, wenn Menschen in Reih und Glied marschieren. Das ist eine Besonderheit militärischen Denkens und eines sowjetischen Menschen. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass Putin den Russen nichts aufzwingt. Er spiegelt selbst eher die Vorstellungen der Masse der Bürger wider. Zumindest war das bislang so.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie?

Chodorkowski: Die Jugend in Russland unterscheidet sich heute deutlich von der Generation ihrer Eltern. Junge Russen haben einen sehr viel selbstverständlicheren Umgang mit alltäglicher Freiheit: Sie sind es überhaupt nicht gewohnt, dass der Staat ihnen etwas zu lesen oder anzuschauen verbietet.

SPIEGEL ONLINE: Vor drei Jahren kamen Sie überraschend frei, auf Vermittlung des inzwischen verstorbenen Ex-Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Wie verbringen Sie Ihre Freiheit?

Chodorkowski: Ich versuche, meinem Land zu helfen, die derzeitige Etappe der Konterreformen zu überwinden, die Präsident Wladimir Putin durchführt.

SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie die Ära Putin beenden?

Chodorkowski: Ich würde es nicht Putin-Ära nennen. Es ist eher eine Zeit, in der eine durch den rasanten Wandel in den Neunzigerjahren erschöpfte Gesellschaft auf aggressive Art und Weise Erholung sucht. Die russische Gesellschaft, die sich in vielem zu Unrecht erniedrigt fühlt, versucht, ihre Selbstachtung zurückzugewinnen - oft mit ziemlich befremdlichen Methoden: etwa auf dem Wege der Konfrontation mit dem Ausland. Um dies zu beenden, gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man den Leuten helfen, die Realität anzuerkennen, die wahre Lage der Dinge.

SPIEGEL ONLINE: Und Variante zwei?

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Chodorkowski: Der natürliche Prozess des Generationenwechsels. Jüngere Russen schauen anders auf die Welt als ihre Eltern. Aber: Auch mit der Jugend muss man arbeiten. Denn unser russischer Staat hat begonnen, die Jugend mit Mythen zu füttern: dass Russland von Feinden umgeben sei, dass unsere Geschichte glänze, ohne Schattenseiten. Aus der Schule wurden alle Geschichtsbücher außer einem einzigen verbannt. Das also ist unsere Aufgabe: den Kampf gegen Mythen zu führen und versuchen, den Leuten zu erklären, dass es zum derzeitigen Kurs durchaus eine Alternative gibt.

SPIEGEL ONLINE: Was versteht die Mehrheit der Russen unter dem Begriff Freiheit?

Chodorkowski: Viele Begriffe haben bei uns heute einen entstellten Sinn. Demokratie ist bei uns ein Schimpfwort. "Liberaler" gilt als besonders dreckige Beschimpfung. Freiheit ist in dieser Logik etwas Verdächtiges. Sie wird verstanden als Möglichkeit, alles tun zu können, ohne Rücksicht auf die anderen.

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